Robert Fleischanderl:
“Guschlbauer weiche Kokosbusserl.
Österreichische Ansichten, ein fotografischer Kommentar”
mit einem Vorwort von Robert Menasse
152 Seiten, durchgehend vierfärbig
Euro 29,00/sfr 49,60
ISBN 3-7082-3141-4

Text zu GUSCHLBAUER WEICHE KOKOSBUSSERL

Robert Menasse

Ganz nüchtern doppelt sehen

Eine Anmerkung zu den Fotos von Robert Fleischanderl

Nicht das Klischee ist Lüge, sondern das Gegenklischee, demzufolge nur das Gegenteil des Klischees wahr sei. Nichts kann zum Klischee werden, was nicht massenhaft wirklich existiert und sich in der Realität immer wieder bestätigt. Die dennoch immer wieder empfundene Differenz zwischen Klischee und Wahrheit kommt lediglich daher, daß der Satz „Jedes Klischee ist Wahrheit“ nicht umkehrbar ist. Mehr noch: Eine Wahrheit muß nicht geliebt werden, um eine zu sein – das Klischee aber schon. Es gibt kein Klischee, das nicht eine affektive Massenbasis hat. Es sind Liebende, die ein Phänomen erst zum Klischee machen, Menschen, die vernarrt darin sind, daß die Wirklichkeit so ist, wie sie sie sehen. Erst hier beginnt das Wahrheits-Problem, die Schwierigkeit, die Realität zu beglaubigen: Wenn einer zum Beispiel einen Menschen liebt, dann liebt er einen Menschen, der wirklich existiert, er kann ihn sehen und sieht viele Gründe, ihn zu lieben. Zugleich, das wissen wir, macht Liebe blind. Das heißt, der Liebende liebt, was er wirklich sieht, aber er sieht nicht mehr, was er liebt; und was er sieht, ist, weil er ja nicht sehen kann, bloße Phantasie. So ist auch das Klischee letztlich doch ein bloßes Hirngespinst – das einem allerdings immer konkret, gegenständlich und real vor Augen tritt. Wer einen Bildband über Österreich macht, muß sich dieser Frage stellen: Wie geht er mit den Klischees um, ohne die die österreichische Realität nicht zu haben ist. Ich glaube, es kann für einen Fotografen nichts Schwierigeres geben, als dies: Etwas zu fotografieren, das jeder sieht und das zugleich so, wie jeder es sieht, doch nicht real ist. Im Grunde zeigt Robert Fleischanderl mit jedem seiner Fotos gleichzeitig diese beiden Bilder: Die Fiktionalisierung unserer Realität und unsere Realität gewordenen Fiktionen.

Es gibt zahllose Österreich-Bildbände: die einen (Klischees pur) werden an Touristen verkauft, die anderen (konsequent gegen Klischees, daher pure Gegenklischees) an jene selbstkritischen Österreicher, deren Selbstkritik Kritik bloß an jenem anderen, ausgelagerten „Selbst“ ist, das sie aus ihrem Leben verbannen wollen, ohne zu merken, daß sie es antithetisch mitproduzieren.

Das aber ist die Kunst des „doppelten Fleischanderls“: daß die Realität, die er abbildet, nicht einfach „Ansichtssache“ bleibt, so ODER so, sondern daß die Ansicht sich verdoppelt und plötzlich den Kreuzungspunkt zweier antithetischer Sehweisen zeigt. Jedes Foto Fleischanderls sagt: Ich bin zwei Bilder!

Der Pappkamerad in Gestalt eines Reserve-Mozarts zeigt: Hier regiert zwar Schüssel, zugleich aber auch Guschlbauer. Spitzenbrustlatz oder Mascherl, Perücke oder Designerbrille, weiche Kokosbusserl oder harte Lippen – das steht nicht mehr in Opposition, zugleich doch, so wie zwei Steilwände, die erst mitsammen eine abgründige Schlucht ergeben. Worauf immer wir starren, Fleischanderl fotografiert die zweite Seite mit, wir sehen sie, auch wenn sich beide „in Wirklichkeit“ fast nie auf einer Ansicht zusammen zeigen.

Wir sehen, wenn wir nur das Ortsschild „Mauthausen“ sehen, ein Konzentrationslager, aber die Wahrheit ist auch, daß Mauthausen heute ein Kaff ist, dessen größte Attraktion ein zweifellos grindiges Lokal mit „OBEN OHNE SERVICE“ ist. Die Bedeutungstransformation, die „OBEN OHNE“ neben „Mauthausen“ und „Mauthausen“ neben „OBEN OHNE“ bekommt, stellt ein Bild her, das vor kein Objektiv mehr gezwungen werden kann – und eben dadurch erst objektiv ist.

Man kann Klischees reproduzieren. Man kann sie denunzieren. Es gibt einen dritten Weg. Es ist im künstlerischen Versuch der Realitätsabbildung der einzig gangbare. Robert Fleischanderl ist ihn gegangen.